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Wolfdietrich Ziesel - Erneuerer und Querdenker



Text erschienen in der begleitenden Broschüre des Dokumentarfilms "Die Kunst der Konstruktion - ein Film über Wolfdietrich Ziesel", beide beauftragt von W. Ziesel, April 2004



So wie in allen Kunstsparten, man denke nur an Jelinek in der Literatur, an Nitsch in der Malerei, gibt es auch im Ingenieurbau jemanden, der mit dem besitzergreifenden, alles relativierenden System von Wien kämpft. Achleitner schrieb über Wien, hier werde alles mit einer Haube Relativismus und Ironie serviert, so dass man, wenn etwas Neues erscheine, nie wirklich wisse, ob einem eine nouvelle creation aufgetischt werde, oder man es mit einem alten Lokalgericht zu tun bekomme(1).

Wolfdietrich Ziesel ist auf der Suche nach Klarheit, auch auf künstlerischen Wegen. Daher kann er nicht anders, als in Konflikt mit seiner Wiener Umgebung zu geraten, einer Umgebung der rückwärtsgewandten Utopien. Selbst seine Kreativität schöpft er, so wie es seit 1900 auch bei vielen anderen Künstlern der Fall ist, aus dem latent vorhandenen und doch nicht beschreibbaren Konflikt mit der Wiener Gediegenheit, mit ihrem zentraleuropäischen Relativismus. Es scheint, als ob die radikalsten Erneuerer in Wien nie anders konnten, als sich mit diesem „System" anzulegen.

Ziesel hat die doppelte Gestalt des Künstlers und Vermittlers. Einerseits schöpft er ununterbrochen neue Ideen und Strukturen, inspiriert von internationalem Geschehen und unter Rückgriff auf seine lange Berufserfahrung, andererseits ist er ein unbeirrbarer Vertreter der Ingenieurideen, seines Credos an eine Klarheit der Strukturen. Besonders seine Lehrtätigkeit an der Akademie der Bildenden Künste hat mehrere Studentengenerationen beeinflusst. Nicht alle, aber diejenigen, die - wenn auch zunächst nur instinktiv - wie er, eine Deutlichkeit in der Konstruktion suchten, fanden in Ziesel einen geistigen Katalysator in der Entwicklung ihrer Ästhetik und einen Lehrer, der latente Vorstellungen in Ideen und Prinzipien verwandelt hat.

Was scheint theoretisch weiter voneinander entfernt, als die Kunst mit ihren unbewussten Prozessen und das Ingenieurwesen, mit seinen genau dokumentierten Gedankengängen und der notwendigen Klarheit der mathematischen Rechenmethoden? Und dennoch können Kunst und Ingenieurbau verbunden werden, nämlich zu Ziesels Art of Engineering. Sie verschmelzen in einem Prozess, der das scheinbar Unvereinbare vereint: durch Intuition, künstlerische Inspiration und rationale, mathematische Klarheit. Die Mathematik der Momentenlinien wird zur Quelle der künstlerischen Überlegungen und Skizzen, während die Zeichenkunst zu einer Herausforderung für die Statik wird. Zusammen bilden sie ein Kräftepaar, das die sich in der Mitte befindende Ingenieurkunst Ziesels in Rotation versetzt, und sie auf diese Weise dynamisiert.

Als ich in den Neunziger Jahren an der Akademie studierte, geschah etwas Paradoxes - ich wurde am stärksten von Lehrkräften in zwei technischen Fächern beeinfluss - von Prof. Brüstle in Akustik und von Prof. Ziesel in Statik. In einer Akademie, die den Künsten gewidmet ist, waren Anregungen, die von der rein künstlerischen Seite des Architekturfaches kamen, minimal. Auch fehlte es an Offenheit. Anders stand es bei einigen der technischen Fächern. Hier fand ich, durstig nach Zusammenhalt und Kohärenz, die Klarheit und die Anstöße, nach denen ich mich, wie so viele andere, sehnte. In den Vorlesungen Professor Ziesels entdeckte ich regelrecht meine Liebe zur Konstruktion, sie wurde mir überhaupt erst bewusst. Für manche Studenten gehörten die Übungen in Tragwerkslehre zu den interessantesten Projekten der Studienzeit.

Ziesels Drang nach zugleich Systematischem wie Künstlerischem ließ ihn in seiner Lehrtätigkeit eine didaktische Gebundenheit seiner Ideen entwickeln. Die kurzen, klaren Sätze, die auch im aktuellen Film zu hören sind, beweisen dies. Die persuasive Art, mit der er die Geschichte des Ingenieurbaus und die Vorteile gut durchdachter Tragwerke vorstellte, prägte die Entwicklung einer neuen Generation von Architekten.


Horia Marinescu, März 2004

Noten:
(1) Friedrich Achleitner, Wien allein?, Essay aus dem Band Wiener Architektur – zwischen typologischem Fatalismus und semantischem Schlamassel – Wien 1996